Felix Mendelssohn Bartholdy: Oratorium Paulus op. 36

Mendelssohn begann in seinem 25. Lebensjahr mit der Komposition des „Paulus“. Das Werk wurde anlässlich des Niederrheinischen Musikfestes in Düsseldorf unter der Leitung des Komponisten am 22. Mai 1836 uraufgeführt. Es erfreute sich eines außergewöhnlichen Erfolges, der alles in den Schatten zu stellen schien, was an Oratorien seit Haydns Spätwerken in Deutschland geschrieben worden war.

Royal Scottish National Orchestra and Chorus


Von Düsseldorf aus trat der „Paulus“ seinen Siegeszug durch Europa an. Das Werk wurde noch einmal überarbeitet und schließlich innerhalb der nächsten achtzehn Monate mehr als fünfzig mal an über vierzig Orten zur Aufführung gebracht. Es erreichte damit eine Popularität, die erst durch den „Elias“ übertroffen werden sollte.

 

Der erst 20-jährige Mendelssohn hat bereits im Jahre 1829, nach nahezu 100-jähriger Vergessenheit, die „Matthäuspassion von J.S.Bach wiederaufgeführt. Es war dies ein Bekenntnis des jungen Mendelssohn zu der geistigen Größe und der tief religiösen Aussage des Oratorienschaffens von J.S.Bach. Sein Geist ist jederzeit in den Choralbearbeitungen und Rezitativen des „Paulus“ zu erspüren. In England wurde Mendelssohn als würdiger Nachfolger der Händelschen Oratorien gefeiert.

 

Aber trotz dieser großen Vorbilder spricht der Komponist Mendelssohn seine ureigenste musikalische Sprache. Sie zeigt sich in der Verbindung von weicher Ausdrucksmelodik und ausbalancierten, liedhaften, klassisch-romantischen Formen mit Elementen des Spätbarock. Reminiszenzen an Bachs große Passionen sind zweifellos die Turbachöre der „Stimme des Volkes“.

 

Die Gestalt des Paulus war für Mendelssohn Gegenstand intensiver persönlicher Auseinandersetzungen. Den Text stellte er, vorallem unter Mitwirkung des Theologen Julius Schubring, nach Worten der heiligen Schrift selbst zusammen. Mit Sicherheit hatte er ein sehr differenziertes Bild von jüdisch-christlicher Tradition und protestantischer Theologie.

 

Zum Inhalt

 

Die Einleitung des Oratoriums nimmt im Choralzitat „Wachet auf ruft uns die Stimme“ Bezug auf das bei Matthäus überlieferte Gleichnis von den zehn törichten Jungfrauen. Die darin angedeutete Lichtsymbolik zählt zu den wesentlichen Momenten des Paulusoratoriums und darf in dieser Deutung als programmatisch für die christliche Gemeinde angesprochen werden.

 

Das Gebet der Gläubigen „Herr, der du bist der Gott“ nimmt zwischen Schöpfungsbericht und der Auflehnung der Heiden die Konfliktsituation auf, die das ganze Oratorium bestimmt. Der fast barock harmonisierte Choralsatz „Allein Gott in der Höh‘ sei Ehr‘“ beschließt mit unerschütterlichem Gotteslob die dreiteilige Eröffnung.

 

Die Handlung vollzieht sich in zwei großen Abschnitten:Der erste Teil des Oratoriums berichtet davon, daß Stephanus von gesetzestreuen Juden gesteinigt wird. Tumultartige Szenen kontrastieren mit kontemplativen Momenten (Himmelsvision des Stefanus und die reflektierende „Jerusalem-Arie“). Unter den Eiferern befindet sich auch der junge Saulus von Tarsus, der die Christengemeinde in Syrien verfolgen will. Über die konkrete Situation der Steinigung hinaus zerstört er die christliche Gemeinde zu Jerusalem und zieht „mit einer Schar nach Damaskus“, wozu er „Macht und Befehl von den Hohepriestern hat, um Männer und Weiber gebunden zu führen gen Jerusalem“. Auf dem Weg nach Damaskus geschieht das Wunder: er sieht das Licht Jesu, erblindet und bekennt sich zu Christus. Als Konsequenz dieser Berufungsvision bezeichnete er sich fortan nicht mehr mitseinem hebräischen Namen „Saulus“, sondern mit dem römischen Namen „Paulus“.

 

Von diesem Ereignis her ist das geflügelte Wort vom „Saulus zum Paulus“ in unseren Sprachgebrauch ebenso eingegangen wie das „und alsbald fiel es wie Schuppen von seinen Augen".

 

Man wird aber der Sache nicht gerecht, wenn man damit meint, daß aus einem bösen Menschen ein guter geworden wäre. Jedenfalls muß vor Damaskus etwas geschehen sein, was Paulus im Kern seiner Existenz getroffen und verwandelt hat. Durch diese Wandlung wuchsen diesem an sich schwachen Menschen ungeahnte Kräfte zu, die zu weltgeschichtlichen Veränderungen führten. Die beiden großen Chöre „Mache dich auf, werde Licht“ und „O welch eine Tiefe des Reichtums“ sind in ihrer architektonischen Anlage den berühmten Oratoriensätzen Händels ebenbürtig.

 

Der zweite Teil mit dem programmatisch zu verstehenden Eingangschor: „Der Erdkreis ist nun des Herrn“ berichtet von Paulus‘ und Barnabas‘ Missionstätigkeit bei Juden und Heiden. Besonders beachtenswert sind die ausgewogen und liebevoll gestalteten zwei Apostelduette. In der musikalischen Realisation der Rezitative erkennt man immer wieder die Problematik der Heidenmission von der Vergötterung bis zur Verfolgung. Juden und Heiden lehnen sich gegen Paulus auf. In konspirativer Hast, anfänglich in geducktem, später deutlich hassendem Gestus, bricht der Volkszorn zur Verfolgung und Tötung des Paulus los.

 

Treffend zeichnet Mendelssohn mit kurzen, abgerissenen Motiven das bösartige, verleumdende Zischeln „Ist das nicht der zu Jerusalem verstörte alle, die diesen Namen anrufen“. Der ehemalige Christenverfolger wird um des christlichen Glaubens willen verfolgt. Die knisternde Handlung wird verlassen und aufgefangen durch die überzeitliche Choralparaphrase „O Jesu Christe, wahres Licht“. Zugleich wird ein Bogen gespannt zur Lichtsymbolik des ersten Teiles. Auch die Erregung der Ungläubigen „Hier ist des Herren Tempel“ ist unter Bezugnahme auf den Steinigungschor des ersten Teiles komponiert.

 

Von bezaubernder Schönheit in der formalen und musikalischen Anlage, mit der lyrischen Begleitung eines Solo-Cellos, zeigt sich der Treueschwur des Apostels: „Sei getreu bis in den Tod“. Die persönliche Ansprache des Missionars „Ihr wisset, wie ich allezeit bin bei euch gewesen“ mündet in eineergreifende Abschiedsszene von seiner Gemeinde in Ephesus. Der Märtyrertod des Apostels wird nur angedeutet. Den guten Kampf des Glaubens zu kämpfen, mit dem Vorbild der Glaubensfestigkeit des Apostels Paulus, ist für Mendelssohn zugleich Aufruf und Verpflichtung. Mit dem groß angelegten Lobpreis „Lobe den Herrn, meine Seele (Ps. 103)“ endet das Oratorium.

 

Felix Mendelssohn getaufter Jude oder Christ jüdischer Herkunft?

 

Mendelssohns Großvater, Moses Mendelssohn, war ein berühmter und anerkannter Philosoph. Der Vater, ein gebildeter Bankier, hatte sich entschlossen, seine Kinder taufen zu lassen, auch die Eltern nahmen die Taufe an. So wuchs Felix in großbürgerlich-weltoffenem Milieu und in protestantischer Überzeugung auf, doch verleugnete er seine jüdischen Wurzeln nicht. Es versteht sich, daß ihn vor diesem Hintergrund die Gestalt und das Leben des Apostels Paulus faszinierte. Wie er stand Mendelssohn vor einer ähnlichen Frage: Bin ich Jude oder bin ich Christ?

 

Schon zu Mendelssohns Lebzeiten war das „Jüdische“ in seiner Musik unterstrichen worden. 1850 veröffentlichte Richard Wagner den Aufsatz "Das Judentum in der Musik“, in dem er auf das heftigste gegen Felix Mendelssohn-Bartholdy polemisierte: Die jüdische Musik des Mendelssohn gehöre nicht in deutsche Konzertsäle.Auf welch fruchtbaren Boden solche „Argumente“ fallen, wird im 20. Jahrhundert sichtbar:1933 wird die Musik von Felix Mendelssohn-Bartholdy in Deutschland verboten, 1937 wird das Mendelssohn-Denkmal vor dem Gewandhaus in Leipzig zerstört.

 

Johannes Vöhringer